Praxis für Psychotherapie - Biberach
Ute Brintzinger

1. Einleitung

Eine Klientin fragt mich am Ende der zweiten Therapiestunde: „Ist das denn Gesprächstherapie, was du da machst?“ Wie ein Blitz durchdringt mich die Stimme meines inneren Zensors: „Siehst du, du warst mal wieder zu lahm, zu lasch, zu langweilig! Nichts von der sprudelnden Lebendigkeit der Gestalttherapie...!“ Während ich tief durchatme, mache ich mir bewußt: Veronika beschäftigt sich gerade mit Gesprächstherapie. Bevor sie in Therapie zu mir kam, war sie Schülerin im Psychologie-/Psychotherapiekurs in einer Heilpraktikerschule, wo sie auch von mir unterrichtet wurde. Und zuletzt ging es um Gesprächstherapie.

Wieder etwas gefaßter antworte ich ihr: „Ich bin Gestalttherapeutin.“ „Ach so, das sah für mich so aus wie Gesprächstherapie. So das einfühlende Verständnis und so.“ Erleichtert regt sich in mir eine versöhnliche Stimme, die mir sagt: „Immerhin hat sie sich verstanden gefühlt.“ Und ich antworte der Klientin: „Die Gesprächs­therapie und die Gestalttherapie sind auch verwandt miteinander. Sie entspringen beide der humanistischen Strömung.“ „Ja, aber was war heute daran Gestalt­therapie?“ So genau werde ich selten hinterfragt!

Veronika ist eine Frau, die, wie sie mir im ersten Gespräch gesagt hat, sehr schnell in Kontakte reinspringt und hinterher bereut, sich so unangemessen schnell preis­gegeben zu haben.

Ich antworte ihr: „Das Gestalttherapeutische heute war, daß wir uns langsam einander angenähert haben. Daß wir uns erst mal beschnuppert haben. Und daß wir uns den heißen Brei, den es da gibt, erst mal von außen angesehen haben.“

Meine Klientin hat mich wirklich in Verlegenheit gebracht mit ihrer Frage. Und tat­sächlich frage auch ich mich immer wieder, ob das nun wirklich Gestalttherapie ist, was ich mache. Von der Therapieausbildung ist mir in Erinnerung, daß das Wesentliche in der Gestalttherapie das Menschenbild ist. Die Techniken allein, wenn sie losgelöst vom Menschenbild angewendet werden, machen noch keine Gestalttherapie aus. Und doch sind es meist die – bisweilen spektakulären – Techniken, die Außenstehende als erstes in Verbindung mit Gestalttherapie bringen. Auch weiß ich selbst aus eigener Erfahrung, wie erleichternd für mich der Einsatz einer Technik ist, wenn ich ansonsten nicht weiter weiß. Dann ist es wie ein Rettungsanker für mich, wenn mir die Idee kommt, dem Klienten ein Rollenspiel oder ein Experiment vorzuschlagen. Neulich ging es mir wieder so. Die Ausein­andersetzung mit dem Menschenbild im Hinterkopf hinterfragte ich in der Situation allerdings mein Vorhaben und beschloß, der Versuchung eine Technik einzusetzen zu widerstehen. Es ging darum, daß mein Klient die Erkenntnis gewonnen hat, daß er zu passiv sei. Aus dieser Erkenntnis heraus kam der Wunsch: „Und wie kann ich das nun verändern?“ Es wäre mir leicht gefallen, nun mit ihm ein bißchen zu üben. Doch gleichzeitig spürte ich einen Widerstand in mir gegen ein Rollenspiel. Ich spürte nämlich, daß mein Klient auch Bedenken hatte, was passieren könnte, wenn er aktiv würde. Nun widmeten wir uns diesen Zweifeln, die erst unklar und dann nach und nach immer konkreter wurden. Zum Rollenspiel kamen wir in dieser Sitzung nicht mehr. Eine Woche später erzählte er mir freudig von vielen Situa­tionen, die er mit Neugier aktiv angegangen sei. Es sei ihm leicht gefallen, er habe sich gar kein „Programm“ vornehmen müssen. Er habe das Gefühl gehabt, daß allein dadurch, daß er seine Probleme und seine Bedenken ernstgenommen habe, sie sich bereits aufgelöst hätten.

Dieses Phänomen der „Paradoxie der Veränderung“, wie Beisser (1995) es ge­nannt hat, drückt Yontef (1983) so aus: „Veränderung fließt aus der Anerkennung dessen, was ist, statt aus der Förderung dessen, was sein sollte.“ Und dies ist eines der Grundprinzipien der Gestalttherapie. Hier steckt alles drin, worauf ich in den nächsten Kapiteln eingehen werde: die Ganzheitlichkeit, der Prozeß und der (dialogische) Kontakt.

Ich muß zugeben: Eigentlich wird mir vieles über das Menschenbild der Gestalt­therapie erst jetzt bewußt, wo ich versuche darüber zu schreiben. Während der Therapie mit Mechthild, um die es im praktischen Teil dieser Arbeit geht, ging es mir oft so, daß ich spürte, daß etwas fehlt, was mit Kontakt und Beziehung zu tun hat. Aber ich wußte nicht recht, was es ist. Auch war mir nicht klar, was mit dem spezifischen Kontakt gemeint ist, der die Gestalttherapie von anderen Therapie­formen unterscheidet.

Und noch etwas. Die Auseinandersetzung mit dem Menschenbild in der Gestalt­therapie macht mir nochmals bewußt, daß die Gestalttherapie mehr als nur eine Therapieform ist, daß sie vielmehr eine Lebenseinstellung, oder wie Heik Portele (1994) es ausdrückt, eine „Lebenskunst“ ist.

Eben erwähnte ich das Phänomen der Paradoxie der Veränderung und bezeichnete es als Grundprinzip der Gestalttherapie, in dem alles steckt, was Gestalt­therapie ausmacht. Meines Erachtens beruht das Menschenbild der Gestalt­therapie auf drei Annahmen:

1. Alles Leben spielt sich als Ganzheiten ab. Dieser Annahme liegt ein ganzheit­liches Denken über das Wesen des Menschen und über alles Sein zugrunde.

2. Alles Leben ist ein Prozeß. Polster und Polster (1995) nennen es: „Ein Ding fließt aus dem anderen.“

3. Der Mensch ist nicht losgelöst von seiner Umwelt zu sehen. Oder, wie Martin Buber (1973) es ausdrückt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Hier geht es um die Notwendigkeit von Kontakt.

Auf diese drei Annahmen und ihre Implikationen möchte ich im folgenden näher eingehen.

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