Praxis für Psychotherapie - Biberach
Ute Brintzinger

3. Prozeß

Die Gestalttherapie geht davon aus, daß alles in Bewegung ist, sich alles verän­dert. Wenn sich alles Leben im Jetzt abspielt, verändert sich alles Leben, so wie aus der Gegenwart Vergangenheit und aus der Zukunft Gegenwart wird.

Gehen wir vom ganzheitlichen Denken aus, so ist eine Ganzheit auch nichts Stati­sches, auch sie verändert sich permanent. Und so ist die Tendenz zur guten Gestalt nichts weiter als die Fortführung des ganzheitlichen Denkens unter dem Gesichtspunkt des Prozeßhaften, dem alles Leben unterliegt.

Die Tendenz zur guten Gestalt entstammt den Gestaltgesetzen der Wahr­nehmungspsychologie. Das Prägnanzgesetz von Koffka besagt, daß die Tendenz besteht, das Wahrnehmungsfeld zur besten, einfachsten und stabilsten Organisa­tion hin zu gestalten. Die Gestalttherapie wurde wesentlich von der Gestalt­psychologie beeinflußt. Lore Perls hat im übrigen über visuelle Wahrnehmung promoviert. In einem Interview (1977) sagt sie: „Ich war erst Gestaltist und wurde dann Analytikerin.“

Was für unsere visuelle Wahrnehmung gilt, gilt genauso für alles Funktionieren des Organismus. Hierfür gibt es viele Ausdrücke in der Gestalttherapie: Homöostase, organismische Selbstregulation, Gestaltbildung. Das Gegenteil sind die „unfinished business“, die unerledigten Geschäfte. Sie rauben einem den Schlaf oder halten einen in sonst einer Spannung, da sie danach drängen, abgeschlossen zu werden.

Perls betont, daß das Konzept der organismischen Selbstregulation, nach dem der Organismus von alleine dafür sorgt, in sein Gleichgewicht zu kommen, wenn man ihn nur läßt, ein sehr altes ist. Bereits im Tao heißt es: „Geh aus dem Wege“ (Perls et al. 1997).

Ein Beispiel für die organismische Selbstregulation ist das Essen. Wenn ich mich an meinen Bedürfnissen orientiere, werde ich genauso viel essen, wie ich brauche. Ich muß mir keinen Plan machen, wie viel oder wie wenig ich essen soll. Wenn ich stattdessen nur meinem Bedürfnis vertraue – ich meine jetzt das Bedürfnis nach wirklichem Essen und nicht das „Bedürfnis“ oder die Gewohnheit, Langeweile zu bekämpfen oder Frust abzubauen, indem ich esse – wenn ich also meinen Bedürf­nissen vertraue, dann werde ich von alleine nur so viel zu mir nehmen, wie ich tat­sächlich brauche.

So sieht die gesunde organismische Selbstregulation aus. Nun gibt es auch das, was Perls et al. (1997) als „neurotische Selbstregulation“ bezeichnen. Jemand, der die Erfahrung gemacht hat, daß die Welt voller Gefahren ist, wird auch in einem Moment, in dem keine offensichtliche Gefahr droht, mit erhöhter Spannung und innerer Alarmbereitschaft reagieren. Dies ist seine Überlebensstrategie, seine An­passung an eine gefahrenvolle Welt. Würde er versuchen, sich zu entspannen, so empfände er sich im Ungleichgewicht. Nach seiner Psycho-Logik ist es schlüssig, angespannt zu sein.

Das Beispiel mit dem Essen ist ein Beispiel für die Befriedigung fundamentaler existentieller Bedürfnisse. Wenn wir die Bedürfnishierarchie von Maslow betrach­ten, handelt es sich um die untersten Bedürfnisse. Der Wunsch, Bedürfnisse zu befriedigen und etwas, das offen ist, zur „guten“ Gestalt zu bringen, spielt sich auf allen Stufen der Bedürfnishierarchie ab. So tritt für viele Menschen, für die die Frage nach den basalen menschlichen Bedürfnissen gelöst ist, die Frage nach der Befriedigung höherer Bedürfnisse in den Vordergrund. Es geht dann z.B. darum, nicht nur einen Beruf zu finden, der das finanzielle Einkommen sichert, sondern der dazuhin den persönlichen Neigungen und Interessen entspricht. Das sind die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung, die die Spitze der Bedürfnishierarchie bilden.

Mit Gestalttherapie wird oft Selbstverwirklichung assoziiert. In der Tat ist die Selbstverwirklichung ein zentraler Begriff in der humanistischen Psychologie. Voraussetzung für die Selbstverwirklichung ist die Annahme, daß der Mensch ein handelndes Subjekt ist, das aktiv auf seine Umwelt einwirkt, diese erforscht und verändert. Im Zusammenhang mit der Tendenz zur guten Gestalt heißt das, daß Menschen immer wieder auf offene Gestalten treffen, die sie aktiv zu schließen versuchen. Solche offene Gestalten können in allen Lebensbereichen auftreten. Die Triebfeder, sich den Gestalten zu nähern, sind Neugier und Interesse. Die Triebfeder, sie zu schließen, ist das Bedürfnis nach Befriedigung, Harmonie und innerer Ruhe.

Eine Einschränkung zur Selbstverwirklichung möchte ich hier anbringen. Selbst­verwirklichung und der Mensch als handelndes Subjekt heißt nicht, daß der Mensch allmächtig ist und ganz und gar, wie es im Sprichwort heißt, seines Glückes Schmied ist. Diese Einstellung erscheint mir vermessen. Weitaus ange­messener ist, wie Heik Portele (1994) es in Anlehnung an Buber ausdrückt: „Es genügt anzufangen, das Anfangen steht in der Macht des Menschen, das Vollen­den ist Gottes Gnade.“ Und in diesem Sinne trägt jeder Verantwortung für sein Anfangen.

Selbstverwirklichung wird oft auch mißverstanden als das Ausleben eines Ego-Trips. Dies ist nicht, was die Gestalttherapie darunter versteht. Selbstverwirklichung schließt hier die Beziehung zum Gegenüber mit ein. Staemmler (1992) schreibt, indem er sich auf Buber bezieht: „Die menschliche Tendenz zur Selbst­verwirklichung ist nicht ein selbstbezogener Vorgang; sie ist vielmehr als ein sehr grundsätzliches Bedürfnis nach einer Ich-Du-Qualität in den für einen Menschen als bedeutsam erlebten Beziehungen zu interpretieren.“

Der Schlüssel, um offene Gestalten zu schließen, ist die Bewußtheit. Bewußtheit heißt, wahrzunehmen, was ich gerade spüre. Bewußtheit heißt, in wachsamem Kontakt mit mir und meiner Umwelt zu sein. „Bewußtheit befähigt einen Menschen, auf die gegebene Situation in einer Weise zu antworten, die den eigenen Bedürf­nissen und den Gegebenheiten der Situation angemessen ist. Bewußtheit ist integrativ. Wer über Bewußtheit verfügt, entfremdet sich nicht von bestimmten Aspekten seiner Existenz; er ist ganz“ (Yontef 1979, zit. nach Lynne Jacobs 1990 ). So kann ich also meinen Bedürfnissen auf die Spur kommen.

Daher ist auch der Schlüssel zur Selbstverwirklichung die Bewußtheit. Nur wenn ich spüre, was ich brauche, kann ich dem nachgehen. Deshalb ist das Arbeiten mit der Bewußtheit eines der zentralen Konzepte in der Gestalttherapie.

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