Praxis für Psychotherapie - Biberach
Ute Brintzinger

2. Ganzheitlichkeit

Das ganzheitliche Denken in der Gestalttherapie manifestiert sich an fünf Punkten, die ich der Reihe nach darstellen werde.

Organismus

Der Mensch an sich wird als Ganzheit betrachtet. Perls wendet sich gegen die Spaltung von Körper und Seele und postuliert stattdessen, daß Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden. Er verwendet dafür den Begriff des „Organismus“.

Wichtig für das Verständnis des ganzheitlichen Denkens ist ein Aspekt der Ge­stalttheorie: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Hier spielen Wechselwirkungen eine Rolle. So sind auch Körper, Geist und Seele nicht einfach drei Einheiten, die nebeneinander existieren, sondern sie bedingen und beeinflus­sen sich gegenseitig. Um dies zu illustrieren, lasse ich meine Schüler in der Heil­praktikerschule beim Thema „Psychosomatik“ gerne folgendes Experiment machen. Sie sollen mit der einen Hand die andere langsam berühren. Dann fordere ich sie auf, über das Erlebnis zu sprechen. Schließlich stelle ich die Frage: „War das nun Körper, Seele oder Geist, was Sie gespürt haben?“

Pol und Gegenpol

Wenn wir einen Menschen betrachten, so stechen uns oft einzelne Eigenschaften ins Auge. Wenn ich an meine Klientin Veronika denke, die mir gerne von ihren be­ruflichen Erfolgen erzählt, so bin ich geneigt zu sagen: „Sie ist selbstbewußt und weiß was sie kann.“ In Wirklichkeit ist das nur die eine Seite. Die andere Seite spielt sich mehr im Verborgenen ab. Veronika deutet nur zwischen den Zeilen an, daß sie unsicher ist und Zweifel an sich hat und sich eigentlich danach sehnt, von jemandem bestätigt zu werden, um an sich selbst glauben zu können. So trägt sie beide Pole in sich: auf der einen Seite fühlt bzw. zeigt sie sich groß und erfolgreich, auf der anderen Seite fühlt sie sich klein und unsicher.

Ganzheitliches Denken heißt, daß beide Pole zusammen eine Ganzheit bilden. Wenn ich nur einen Pol betrachte, werde ich der Person nicht gerecht. Ich begreife sie nicht wirklich. Dasselbe gilt auch für mein eigenes Selbstbild. Wenn ich glaube, ich habe nur die eine Seite in mir, nicht aber ihren Gegenpol, so spalte ich einen Teil meiner Wirklichkeit, meiner Ganzheit ab. Und so ergibt sich das Paradoxe, daß, wenn ich meine Schattenseiten miteinbeziehe, ich nicht kleiner werde, son­dern vollständiger.

Die Philosophie der „schöpferischen Indifferenz“ von Salomo Friedländer (Frambach 1993) bringt die Pole zusammen. In der Mitte zwischen den Polen liegt die schöpferische Indifferenz. Da sind beide Seiten in einem ausgewogenen Maß vertreten. Da kommen die Extreme zur Ruhe. Es hat sich ein harmonisches, fließendes Gleichgewicht eingestellt.

In die Mitte findet eine Person oft dann, wenn sie ihre Extreme anerkennen konnte und sich im Buberschen Sinne bestätigt fand – darauf komme ich später noch zu sprechen.

Ganzheit im zeitlichen Geschehen

Das ganzheitliche Denken zeigt sich in der Gestalttherapie auch im Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alle drei zusammen bilden eine Ganzheit. Sehen wir Vergangenheit und Zukunft als Pole, so liegt die Gegenwart in der Mitte. Die Extrempole spielen eine Rolle, um die Gegenwart besser verstehen zu können. So sind Vergangenheit und Zukunft der Kontext, in dem ein aktuelles Verhalten steht. Oder in der Sprache der Gestalttherapie: Vergangenheit und Zukunft bilden den Hintergrund, vor dem sich die Figur gerade abhebt. Allein mit der Vergangen­heit zu arbeiten, heißt sich damit zu begnügen herauszufinden, warum was wie gelaufen ist. Wer sich nur mit der Zukunft beschäftigt, befaßt sich losgelöst vom Entstehungszusammenhang mit Wünschen, Sehnsüchten und Plänen. Solches passiert oft bei Diäten. Jemand möchte abnehmen, hat ein Ziel vor Augen (10 kg sollen’s mindestens sein), ißt daraufhin nur noch Reis und Körner und nach drei Wochen sind die Pfunde weg. Doch weitere drei Wochen später sind sie wieder drauf. Warum? Die Antwort wird deutlich, wenn wir den Hintergrund miteinbezie­hen. Die Bedeutung des Essens, die sich in der Vergangenheit herausgebildet hat und die heute noch – ganz in der Gegenwart – das Eßverhalten bestimmt, wurde nicht erfaßt.

Die Gestalttherapie geht davon aus, daß alles Leben in der Gegenwart stattfindet. Perls (1992) schreibt: „Keine Erfahrung ist möglich außer in der Gegenwart.“ Und damit ist nicht nur die Gegenwart im Sinne der aktuellen Lebenssituation gemeint, sondern ganz wörtlich: die Gegenwart in der Therapie, in der Beziehung zueinan­der.

Mensch-Umwelt-Feld

Und somit kommen wir zu einem weiteren Eckpunkt des ganzheitlichen Denkens, dem ich in Kapitel 1.3 („Die Notwendigkeit des Kontaktes“) mehr Aufmerksamkeit schenke und ihn deshalb hier nur kurz streifen will. Der Mensch wird in der Gestalttherapie nie isoliert betrachtet, sondern immer in Beziehung zu seiner Um­welt gesehen. „Es gibt keine einzige Funktion irgendeines Lebewesens, die sich ohne Objekte und Umwelt erfüllt...“ (Perls et al. 1997). Die Trennung zwischen Mensch und Umwelt wird aufgehoben, beide zusammen bilden Pole eines größe­ren Ganzen.

Das Potential des Menschen

In der Gestalttherapie arbeiten wir mit dem Potential des Klienten. Wir wissen, daß das, was er offen auslebt, nur ein kleiner Teil seines Potentials ist. Und wir wissen, daß er durch entsprechende Unterstützung einen weiteren Teil seines Potentials kennenlernen und entfalten kann. Auch hier liegt eine ganzheitliche Sichtweise zugrunde. Im Menschen ist alles angelegt, was er braucht. Er ist, in diesem Sinne, vollständig und ganz. Vieles ging im Laufe der Sozialisation wieder verloren, wurde zugeschüttet. Oder es verkümmerte, da es nicht beachtet wurde. Von daher geht es in der Therapie nicht darum, sich etwas anzueignen, was gänzlich fremd ist, sondern vielmehr das wiederzuentdecken, was verloren gegangen ist. Oder das wiederzubeleben, was verkümmert ist. Perls (1992) beschreibt das so: „Was wir in der Gestalttherapie erreichen wollen, ist die Integration aller verstreuten und verleugneten hinausgeworfenen Teile des Selbst und die Wiederherstellung des ganzen Menschen.“ Das kann dann so ablaufen wie Almut Ladisich-Raine (1989) es beschreibt: „Manchmal übernehme ich für lange Zeit die Rolle des Menschen, der immer wieder das Potential sieht, der Vertrauen hat, der schützt und fördert und Grenzen setzt, bis der andere es selber kann.“

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